Risikomanagement, Rational-Choice-Theorie und mein Fahrstuhlproblem
- Christoph Sander

- 3. Feb. 2019
- 4 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 25. Feb. 2020
Vergangene Woche war wieder einer dieser nervtötenden Momente, ich stehe vor dem Fahrstuhl, will eigentlich nur 2 Etagen nach unten fahren... Und warte Ewigkeiten!
Da ich ein sehr ungeduldiger Mensch bin und versuche, alles möglichst zeitoptimiert zu erledigen, sind diese Momente wirklich eine Qual. An diesem Tag aber habe ich statt mich zu ärgern die Zeit genutzt, mir Gedanken darüber zu machen, warum ich nicht einfach die Treppe genommen habe und warum ich das bei nur einer Etage stets tue.
Zugegebener Maßen ist das Fahrstuhlproblem an sich es nicht wert, einen Beitrag zu schreiben. Dennoch kann diese wirklich alltägliche Situation als Beispiel dienen, wie und warum wir welche Entscheidungen fällen, und welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Nutzen wir deshalb meinen Frust ob Wartezeit, um die Grundlagen der Entscheidungstheorie an diesem einfachen Beispiel zu erläutern.
Entscheidungstheorie und rational choice
Bei einer zeitlich zu optimierenden Fragestellung ist die rationale Entscheidung diejenige, bei der der Erwartungswert des Zeitaufwands minimal ist. Nun haben wir mit dem Fahrstuhlproblem ein passendes Beispiel für einen häufig in unternehmerischen Kontext zu vergleichenden Fall. Schauen wir uns die Entscheidungsmöglichkeiten also einmal genauer an:
Choice 1: Treppe, gut prognostizierbarer Zeitaufwand mit hohem Fixanteil je Etage und Skalenfaktor nahe 1
Choice 2: Fahrstuhl, kaum beeinflussbare Zeitaufwände mit höchst volatilem variablen Anteil und Skalenfaktor je Etage <<1
Präzisieren wir die Unterschiede der beiden Auswahlmöglichkeiten nochmal genauer. Denn während die Treppe es mir erlaubt, anhand meiner Geschwindigkeit die benötigte Zeit zum Treppenhaus und je Etage zu kalkulieren und den Zeitaufwand zu prognostizieren, gelingt mir das für den Fahrstuhl nicht. Hier liegen zu viele Faktoren nicht in meiner Hand, und eben diese Faktoren bestimmen die variable Wartezeit. Die eigentliche Zeit, die dann für den tatsächlichen Weg zwischen den Etagen aufgewendet wird, ist unter Idealbedingungen sehr viel geringer als der Fußweg, erhält aber je Etage einen zusätzlichen Risikofaktor, ein- und aussteigende Fahrgäste.
Ignorieren wir einmal die Algorithmen zur Optimierung von Fahrstuhlauslastung sowie minimale Einflüsse durch die Anzeige der Etage, auf der sich die Fahrstuhlkabine aktuell befindet. Die zu erwartenden Zeitaufwände nehmen für 1 und 2 zu überbrückende Etagen dann schematisch folgende Wahrscheinlichkeitsverteilung an:

Wie bereits beschrieben sind die möglichen Ergebnisse mit dem Fahrstuhl höchst volatil. Zu erkennen daran, dass die Spannbreite der möglichen Zeitaufwände sehr viel höher ist als bei der Treppe. Grund dafür sind die volatilen Initialaufwände, also die unbekannten Wartezeiten, die im Mittel höher liegen als bei der Treppe, sodass ab 2 zu überwindenden Etagen der Erwartungswert (EW = gestrichelte Linie) nahezu identisch ist. Nicht mehr aufgeführt aber nicht schwer zu erraten ist die Tatsache, dass ab 3 Etagen der EW für den Fahrstuhl niedriger ist als für die Treppe.
Die rational choice also die rationalste Wahl wäre jetzt diejenige Entscheidung, die für jeden Fall in Abhängigkeit von der zu überwindenden Anzahl Etagen den Weg mit dem niedrigeren Erwartungswert präferiert.
Ich verzichte an dieser Stelle mal darauf, die mathematischen Hintergründe zu vertiefen. Aber als mich soeben mein 6-jähriger Sohn gefragt hat, was ich denn gerade am Sonntag am Computer mache und ich ihm das Fahrstuhl-Problem geschildert habe, hat er mich in seinen Worten darauf aufmerksam gemacht, dass sich mit dem Bild sogar sprungfixe Aufwände analysieren ließen. Denn überbrücken wir mehr als eine Etage und es gibt tatsächlich Ein- oder Aussteiger, ergeben sich unabhängig von allen anderen Faktoren fixe Wartezeiten, die ich bisher in der Abbildung oben nicht berücksichtigt habe.
Risikobewertung und augenscheinlich irrationale Entscheidungen
Betrachten wir das Fahrstuhlproblem und die Abbildung 1 erneut unter einem anderen Gesichtspunkt, und führen dafür Grenzkriterien ein. Die Brisanz wird eindeutiger, wenn wir das Problem direkt in ein unternehmerisches übersetzen. Auf der X-Achse führen wir nun zu erwartende Umsätze von Maßnahmen oder Geschäftsmodellen auf, auf der Y-Achse bleibt deren Wahrscheinlichkeit abgetragen (die tatsächliche Skalierung der Y-Achse spielt dabei im Übrigen keine Rolle).

Die rote Linie stellt nun einen Mindestumsatz dar, den wir aufgrund interner Bedingungen zwangsweise erreichen müssen. Diese müssen durch etwaige Fixkosten (Personal, Infrastruktur etc) als unterer Grenzwert betrachtet werden, der zwecks Deckung nicht unterschritten werden darf.
Nun fällt direkt auf, dass die ursprünglich für Treppe 1 und Fahrstuhl 1 genutzten Grafenverläufe allein deswegen ausscheiden, weil die Erwartungswerte der Umsätze zu niedrig sind. Interessant wird aber die Betrachtung der anderen beiden Kurven:
Während nämlich der Erwartungswert der gelben Linie höher ist als derjenige der hellblauen, ist gleichzeitig das Risiko höher, in den Verlustbereich zu geraten (Fläche unter dem Grafen links der roten Linie). An dieser Stelle würde eine Überlagerung der Nutzen-Risiko-Bilanz ansetzen, anhand derer ermittelt werden kann, ob die Bilanz aus höherem Erwartungswert abzüglich höherem Verlustrisiko positiv oder negativ ausfällt. Ich verzichte an dieser Stelle auf die mathematischen Formeln, kann diese aber bei nerdigem Interesse nachliefern.
Nehmen wir soviel vorweg: Bei einem wie in der Abbildung beschriebenen Fall würde sich ein Unternehmen sicherlich für die hellblaue Alternative entscheiden. Für einen Außenstehenden wäre diese Entscheidung zunächst irrational, für ihn scheint die Auswahl eindeutig das "gelbe" Modell zu sein, da der Erwartungswert des Umsatzes hier am höchsten ist. Er kann weder die Bewertungskriterien für die Risikobewertung kennen, noch deren zu Grunde liegenden Grenzkriterien.
Von der Theorie zum Bild zur Praxis
Kommen wir nochmal zurück Fahrstuhlproblem. Denn trotz all der Theorie zur rationalen Entscheidung des Einzelnen haben wir weiterhin alle Kollegen, die jede einzelne Etage mit dem Fahrstuhl nehmen (zu denen gehörte ich selbst lange Zeit) oder aber mehrere Etagen immer zu Fuß nehmen (ja Fitness-Junkies gibt es auch in Büros).
Da also das Fahrstuhlproblem augenscheinlich nicht für jeden Menschen eine rational zu beantwortende Fragestellung darstellt, nutze ich den Beitrag einmal mehr, um zu zeigen, wie sich einfache Beobachtungen der Umgebung nutzbar machen lassen, um auch komplexe Zusammenhänge bildlich und zumindest einigermaßen einfach zu erklären.
Ich hoffe, das Gedankenspiel hat auch beim Lesen soviel Spaß gemacht wie beim Grübeln und Schreiben. Ich würde mich freuen, wenn das Thema in einer anschließenden Diskussion weiter vertieft werden könnte.
So long ...





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